Besucherinnen und Besuchern der reformierten Kirche Gebenstorf fallen die beiden Glasfenster im Chor sofort auf. Für ein reformiertes Gotteshaus ist es aussergewöhnlich, dass eine Kreuzigungsszene abgebildet wird. Und die Darstellung des Auferstandenen mit einer angedeuteten Schweizerfahne ist mindestens bemerkenswert. Die Glasfenster sind in ihrer Entstehungszeit zu verstehen. Bei der Einrichtung der 1891 eingeweihten Kirche redete neben dem Architekten eine Kommission mit. Mit den von einer Frau Witwe Kuhn aus Basel geschaffenen Fenstern wollten die Gebenstorferinnen und Gebenstorfer mit der alten «reformierten Nüchternheit» brechen und «wohltuende warme Farbtöne» verwenden.
Offenbar musste schon früh gegen kritische Urteile von Auswärtigen angekämpft werden. In den 1880er Jahren, welche die Diskussionen über die Gestaltung der Kirche prägten, befand sich die Schweiz in einer krisenhaften Phase. Zum einen schüttelte eine tiefgreifende Wirtschaftskrise das Land. In unserer Gegend konnte diese erst durch die Gründung des während Jahren dominierenden Metall- und Elektrokonzerns Brown Boveri & Cie. in Baden überwunden werden. Zum zweiten erschütterten konfessionelle Gegensätze das Land. Zwar war der Höhepunkt des so genannten Kulturkampfes mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 überwunden. Aber bis zur Wahl des ersten katholisch-konservativen Bundesrates, des Luzerners Josef Zemp, sollte es noch bis ins Jahr 1891 dauern. In diese Jahre fallen auch Bemühungen um einen gesamteidgenössischen Buss- und Bettag, der seither Mitte September jeden Jahres abgehalten wird. Damit wäre Christus mit der Schweizerfahne erklärt.
Die Kreuzigungsszene dagegen steht in der Tradition der Kreuzestheologie, die seit der Frühkirche weiter entwickelt wurde, unter anderem von Martin Luther. Vielleicht stellt das Glasfenster ein
Versuch der damaligen Kommission dar, dem Leiden Christi und damit der Erlösung ein Gesicht zu geben.
Wenn dabei auf ein Bild zurückgegriffen wurde, darf dies als noble Geste gegenüber den katholischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gewertet werden.
Die beiden Glasfenster können also als Wunsch nach Einheit und Stabilität der Schweiz und der Schweizer Gesellschaft verstanden werden. Äusserlich passen sie gut zum neugotischen Kirchenbau. Und zur seit dem 16. Jahrhundert gemischtkonfessionellen Bevölkerung in der gesamten Kirchgemeinde Birmenstorf-Gebenstorf-Turgi passen sie erst recht, interessanterweise auch noch im frühen 21. Jahrhundert.
Patrick Zehnder, lic. phil./Historiker